New York – die Realität und nichts als die Realität. Aber gibt es die überhaupt noch?

Statue of Liberty, ein Mahnmal an die freie Welt

Damals: Sozialfotografie in den U.S.

Bereits in den 50er Jahren wurde die Sozialfotografie zur Prostituierten politischer Propaganda (in meiner Darstellung der Sozialfotografie in den USA beziehe ich mich auf Roland Günter’s Buch “Fotografie als Waffe”, 1977 im rororo Sachbuch Verlag, Hamburg, erschienen). Lange bevor jemand die sozialen Missstände in den U.S. auf den Film bannt, wurden Fotografen engagiert um Werbung für die Belange der Regierung zu machen – so Roland Günter weiter. “…neben den Mythos, Befreier der Nazi-Diktatur zu sein, tritt die Propaganda, die USA schaffe ‘eine Welt für alle, die guten Willen sind’ (‘one-worldism’). Der amerikanische Politologe Murray Edelmann hat in seinem Buch ‘Politik als Ritual’ präzis nachgewiesen, wie in der Politik oft das Gegenteil von dem, was real geschieht, feierlich verkündet, oft sogar als Tatsache behauptet wird: um die Bevölkerung von der realen Situation in eine Scheinwelt umzulenken” (Günter, 1977, S. 137).

Wie gesagt, das hat der Mann vor ungefähr 40 Jahren geschrieben. Die Medienlandschaft von damals war jedoch davon geprägt, dass “die Kanäle der Massenkommunikation an der Verbreitung kritischer Informationen mit sozialen Zielen kein Interesse haben… (zwar habe) …jedermann das Recht, seine Meinung zu sagen, aber über seinen privaten Bereich hinaus so gut wie keine Möglichkeit, sie zu verbreiten (Günter, 1977, S. 137).”

Soziale Medien heute

Also wir sind uns wohl einig, dass sich das mit dem sozialen Netz heute erledigt hat, oder nicht? Vielmehr ist es doch so, dass jetzt jeder eine Meinung hat und diese auch verbreiten kann. Das Problem ist doch eher: jeder hat eine Meinung aber die wenigsten wissen, wie ihre Meinung zustande kommt. Jeder hat eine Meinung, aber die wenigsten wissen etwas. Dass dies nicht das gleiche ist, wird schnell mal vergessen. Kaum jemand weiss noch etwas über die Welt, das über unsere Alltagswahrnehmung hinaus geht. Wer mal Daniel Kahnemanns “Schnelles Denken, langsames Denken” liesst (oder Soziologie studiert), wird geschockt sein, wie selten unser Leben so ist wie es zu sein scheint. Mich jedenfalls hat das schockiert. Einmal hinter die Kulissen der Sozialforschung zu schauen tötet jede Hoffnung, irgendjemand könnte sagen was er meint oder tun was er vorgibt zu tun.

Du fragst dich was das alles mit Fotografie zu tun hat oder wie die Geschichte der Sozialfotografie in den USA weiter gegangen ist? Nachdem Lewis W. Hine die haarsträubenden Zustände von Kinderarbeit dokumentiert – und einiges zum Schutz der Kinder bewegt hat – traten im USA der 30er Jahre ein paar soziale Auftraggeber auf den Plan, die ihre Projekte dokumentiert haben wollten, darunter die “Rote Hilfe” oder diverse Arbeiterverbände. Zu dieser Zeit fand sich ein Kollektiv aus Fotografen (und Anfangs auch Filmern) in der East 21st Street in New York ein. Es entstand ein Loft mit offenen Türen für alle, die in der Fotografie ihre Mission sahen. Die sogenannte Photo-Leage veranstaltete für 7 Dollar jährlich Vorträge u.a. mit Robert Capa, Henri Cartier Bresson, Ansel Adams und Lewis Hine. Die Semestergebühr soll bei 30 Dollar gelegen haben. Neu dabei ist, dass es darum ging das Alltägliche zu zeigen, egal ob in den Armenvierteln Manhattans oder im Kreis der oberen Zehntausend. Ziel war es “…ein Bild so aufzunehmen, daß der Betrachter nichts von dem Photographen merkt, der das Bild gemacht hat” (Roland Günter zitiert aus einem Time-Life-Dokument von 1972, 102). Aber geht das überhaupt?

Der American Dream ist das Versprechen, dass jeder, der sich anstrengt es schaffen  – und eine bürgerliche Existenz aufbauen kann. Aber die Schere zwischen arm und reich ging in der amerikanischen Gesellschaft noch nie so weit auseinander wie heute. Sorry, Loser.

Let’s have a snack! Canal Street New York

” Die Welt in unseren Köpfen ist keine exakte Kopie der Wirklichkeit” (Daniel Kahnemann)
Es haben wohl noch nicht alle gemerkt, aber die eine Realität gibt es leider nicht – und was wir daraus lernen.

Aber nochmals zurück zum aktuellen Präsidenten der USA: ungefähr 5 Mal am Tag hat Donald Trump seit seinem Amtsantritt gelogen. Die Journalisten der Washington Post beschränken sich dabei auf grobe Falschaussagen zu leicht nachprüfbaren Fakten. Aber was hilft es? Und: ist einer ein Lügner, wenn er selbst an das glaubt was er sagt? Oder ist er schlichtweg krank, wie etliche Psychiater in den USA vermuten?

Es ist kompliziert geworden, zu erkennen was wahr ist. Nachweislich nimmt die Glaubwürdigkeit einer falschen Aussage mit jeder Wiederholung zu, egal was behauptet wird so Daniel Kahnemann: “Eine zuverlässige Methode,  Menschen dazu zu bringen, falsche Aussagen zu glauben, ist häufiges Wiederholen, weil Vertrautheit sich nicht leicht von Wahrheit unterscheiden lässt.” Wenn wir diese Forschungsergebnisse ernst nehmen, wird mir schlecht bei dem Gedanken an Mr. Trump.

Genauso vorsichtig sollten wir sein, wenn wir Fotos von Obamas und Trumps Amtseinführung vergleichen. Dieser Vergleich ging um die Welt: reihenweise leere Sitze bei Trump. Unbestritten ist, dass Trumps Feier wesentliche weniger Besucher hatte. Leider waren die Fotos aber auch zu unterschiedlichen Uhrzeiten aufgenommen. Es ist klar, dass 30 Minuten vor der Veranstaltung mehr Menschen erscheinen als eine Stunde bevor es losgeht.

Unsere Einschätzung dessen was wir “für wahr halten”, ist massiv durch Medien geprägt und verzerrt. Je öfter über ein Thema wie z.B. Terrorismus berichtet wird, umso grösser erscheint uns die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden. Zudem ziehen ungewöhnliche Ereignisse unverhältnis mässig viel Aufmerksamkeit auf sich (Quelle:  u.a. Daniel Kahnemann in “Schnelles Denken, langsames Denken”). Ob wir ein Ereignis für wahrscheinlich halten, hat mehr damit zu tun wann und wie oft wir zuletzt davon gehört haben – was Kahnemann die Verfügbarkeits-Heuristik nennt. Im Extremfall wird ein belangloses Ereignis durch die Medien zu einem Selbstläufer.

Warum wir diesen Täuschungen auf den Leim gehen? Kahnemanns Antwort darauf ist so einfach wie naheliegend: “Die Affektheuristik vereinfacht unser Leben, indem sie eine Welt erschafft, die viel geordneter ist als die Wirklichkeit. In der imaginären Welt, in der wir leben, haben gute Technologien nur geringe Kosten, schlechte Technologien haben keinen Nutzen, und alle Entscheidungen sind leicht. In der realen Welt dagegen müssen wir Nutzen und Kosten oftmals schmerzlich gegeneinander abwägen.” (Kahnemann in “Schnelles Denken, langsames Denken”).
Mich beschleicht der Verdacht, dass Mr. Trump von der realen Welt leicht überfordert ist. Bleibt zu hoffen, dass er bald von diesem unbequemen Amt erlöst wird.

Der Fotograf als Sozialforscher und Anwalt der Stimmen, die zu wenig gehört werden

Auch heute noch sehen sich Foto-Journalisten als Zeuge von Minderheiten und sozialen Bewegungen, die sich eine Stimme verschaffen wollen. Lukas Hermsmeier (https://lukashermsmeier.com/) hat den New Yorker Fotograf Ken Schles interviewt zu seiner Dokumentation der aktuellen Trump-Proteste: http://www.fluter.de/was-macht-der-strassenprotest-gegen-trump.

Seine Intention, der Bewegung mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen sieht Ken Schles immer mehr in Gefahr. Der energetische Moment einer besorgten Bürgergruppe wird zunehmend schwächer während gleichzeitig die Trittbrettfahrer das Ruder übernehmen, leider ohne selbst politische Alternativen bieten zu können.

Streetphotographie, Instragram & Co

Trotz allem hat eine Art Demokratisierung der Alltags-Fotografie eingesetzt. Selten war Streetphotographie so populär wie heute. Ungefähr 6.5 Mio Fotos sind auf Instagram mit dem Hashtag #candid markiert (candid photo = ein Foto, das überraschende und einmalige Situationen und Momente festhält); mit #street sind ungefähr 40 Mio Fotos markiert. Sehenswert auf diesem Gebiet finde ich Tracy Barbour, die täglich in New York unterwegs ist und unermüdlich den Zeitgeist und das Alltagsleben auf New Yorks Strassen festhält. Schau doch mal auf ihrem Instagram Account (tracybnyc) oder auf ihrer Website vorbei!

3 comments

  1. Pingback:New York - Hauptsache du glaubst an dich. Denn wenn du es nicht tust, bist du verloren. | as I see it

  2. Sehr interessant, was du da über die Wirklichkeit schreibst – oder das, was wir für sie halten. Als (Print) Journalistin sehe ich mich auch immer wieder mit diesem Thema konfrontiert. Richtig ist, dass Medien unsere Wahrnehmung der Welt beeinflussen. Man könnte auch sagen manipulieren. Das kommt auf den Blickwinkel an. Und auf die Absicht. Andererseits: Jeder, der eine Nachricht – ob in Bild oder Wort – transportiert, macht sich angreifbar. Warum? Weil jeder Eindruck immer auch ein persönlicher Eindruck ist. Egal wie viel Objektivität wir einfliessen lassen, Realität ist ein subjektives Konstrukt. Die Wahl des Bildausschnitts, die Perspektive beim Erzählen. Nichts davon ist objektiv. Objektiv gibt es nicht. Bäm.

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