“Ein Portrait ist wie eine Begegnung” S. 46
Was es ist
Der Titel “Die große Fotoschule – Porträtfotografie” vermittelt den hohen Anspruch ein Standardwerk zum Thema People vorzulegen. Ist das gelungen?
Man sollte meinen, dass Porträtfotografie in der Geschichte der Fotografie hinlänglich behandelt wurde und es keine großen Neuerungen mehr gibt. Welche Themen erwarten also den Leser in einem 2014 erschienenen Buch über People Fotografie?
Und: Kann es gelingen ein Buch über alle Themen der Portraitfotografie zu schreiben, das sich an alle Zielgruppen gleichermaßen richtet – Einsteiger und Fortgeschrittene genauso wie Profis, die zum Beispiel in einem anderen Genre zu Hause sind und jetzt in die People Fotografie einsteigen möchten?
Klingt eher unwahrscheinlich aber nach ausgiebigen Lesestunden und ein paar Wochen des Stöberns im Buch komme ich zum Schluss Ja!
Erstaunlich, aber es ist wirklich für jeden etwas dabei:
Durch die Mischung von Überlegungen zu technischen Aspekten, essay-artigen Einführungen, Interviews mit Kollegen, kurzen Artikeln von Gastautoren, Tipps zur konzeptuellen Herangehensweise, vollständigen Projektbeschreibungen und deren genauer Ablauf bis hin zu Praxistipps ergibt sich eine Art Lesebuch für alle interessierten Fotografen.
Was es nicht ist
Das Buch ist kein Workshop in schriftlicher Form. Wer erwartet, dass er gute Fotos nach Rezept machen kann wird eher enttäuscht sein. Hier steht das Handwerk im Vordergrund und die Stärke liegt in der reichhaltigen Erfahrung, die der Autor im Laufe der Jahre erworben hat und hier auf nachvollziehbare und ermutigende Art vermittelt. Nie zu kurz kommt dabei seine eigene Begeisterung für das Fotografieren von Menschen, die er mit dem Leser teilt.
Zielgruppe
Das Buch spricht Portrait Fotografen unterschiedlicher Level und unterschiedlicher stilistischer Ausprägung an. Ich glaube dass wirklich jeder Leser darin Anregungen findet. Das liegt einerseits an der geschickten Schreibweise des Autors, der jeden Abschnitt so einleitet dass ich mich als Leser abgeholt fühle, weil er über den Sinn, Zweck und Nutzen ganz einfach zum Thema hin führt. Das liegt außerdem an der überwältigenden Themenvielfalt, denn allein das Inhaltsverzeichnis liest sich wie der Lehrplan einer mehrjährigen Ausbildung (Portraitfotografie_Inhaltsverzeichnis). Es liegt aber auch daran, dass jedes Kapitel tatsächlich einige neue und überraschende Aspekte dieser faszinierenden Kunst bereithält.
Inhaltliches
Die Texte sind fachlich fundiert, sehr verständlich und gut geschrieben. Ständig werden Fotos als Anschauungsmaterial für das geschriebene eingesetzt. Dabei ist so etwas wie eine Arbeitsteilung zwischen Text und Bild zu beobachten: der Text widmet sich eher der konzeptionellen Sichtweise, während die Bildbeschreibung auf die genaue Kameraeinstellung, das Lichtsetting oder den Bildaufbau eingeht. Der Text wird manchmal ergänzt durch einen kleinen Kasten, in dem eine Anekdote passend zum Thema geliefert wird. Alles sehr gut nachvollziehbar.
Die bevorzugte Bildsprache des Autors selbst ist eher im Bereich natürliches Portrait, Lifestyle und Fashion angesiedelt. Er selbst (und seine Auftraggeber) verzichtet auf besonders ausgefallene, künstlerische und überzeichnete Bildkonzepte – jedenfalls lässt dies seine Bildauswahl vermuten. Andererseits liefern die Fotos exemplarisch sehr gutes Anschauungsmaterial fürs fotografische Sehen. Seine Aussagen zur Umsetzung einer Bildidee trifft auf jeden beliebigen Bildstil zu, auch wenn man vorhat sein Model mit einem Anzug aus roten Federn auf der Klippe über dem tosenden Meer in Szene zu setzen. Auf solche Bilder wird in dem Buch zugunsten einer leichteren Verständlichkeit verzichtet.
Zum Thema Post Processing geht der Autor zunächst auf die wichtigsten Arbeitsschritte bei der RAW Konvertierung in Lightroom ein. Anstatt des weit verbreiteten Ratschlags “Dreh an den Reglern bis dir das Ergebnis gefällt” erklärt er die wichtigsten Basics: er zeigt wie eine korrekte Belichtung anhand der Graukarte erstellt wird und er erklärt, welche Methode wirklich funktioniert um einen Farbstich zu entfernen, bzw den Weißabgleich zu machen. Das mag manche Leser, die ausgefallene digitale Gemälde mögen vielleicht enttäuschen, macht in einer “Fotoschule” aber absolut Sinn. Ich finde das sehr gut, denn wer kommt – wenn er ehrlich ist – nicht manchmal ins schwimmen wenn ein Foto wirklich und einfach mal die Farben so zeigen soll wie sie sind. Ich selbst habe mich schon zu analogen Zeiten mit dem Zonensystem befasst und erliege am Bildschirm manchmal auch den Reglern, was nicht immer zugunsten des Ergebnisses ist. Ich schreibe das deshalb so ausführlich weil es den Ansatz des Buches insgesamt gut wieder spiegelt. Sicher gibt es Bücher, die mehr hippe Techniken liefern, aber das ist nicht der Ansatz des vorliegenden Werkes. Fundiertes Handwerk motivierend rüber gebracht: man sollte die Grundlagen beherrschen und die Regeln kennen bevor man sie effektvoll brechen kann:
“Einige Fotografen verbringen gerne ihre Zeit am Rechner, um das letzte Quäntchen aus ihren Fotos herauszuholen. Andere versuchen, möglichst viel Zeit hinter der Kamera und wenig am Rechner zu ver-bringen. Unabhängig davon, welcher Ausrichtung Sie angehören, können Sie die Zeit am Rechner verkürzen, indem Sie schon beim Fotoshooting eine klare Idee verfolgen und sich über die Vor- und Nachteile der Arbeit danach bewusst sind. Ein gut gesetztes Licht werden Sie kaum am Rechner nachbauen können” (S. 44).
Aktualität
Was mir gut gefallen hat: Immer wieder nimmt der Autor Bezug auf aktuelle Themen, wie z.B. Smartphone Fotografie. Auch die Produktabbildungen der Kameratypen zeigen aktuelle Modelle, wie z.B. die Sony A7 als Vertreter der neusten Generation spiegelloser Systemkameras. Ob es mich als Leser schließlich betrifft oder nicht steht in den Sternen. Ich habe es jedenfalls geschätzt, dass in einem neu erscheinenden Buch aktuelle Entwicklungen aufgegriffen werden und der mögliche Einsatz und Nutzen für die Porträt Fotografen aufgezeigt wird.
Kritik
Wer speziell ein Workshop Buch zum Thema Retuschieren von Porträts mit Frequenztrennung & Co sucht, sollte sich lieber den Titel eines “Photoshop Gurus” zulegen. In der vorliegenden Fotoschule wird das Ziel verfolgt bei der Aufnahme die meiste Arbeit hinter sich zu haben. Das macht durchaus Sinn, denn das Buch richtet sich in erster Linie an Fotografen, nicht an digital Artists. Oder es richtet sich an digital Artists, die ihre fotografischen Kompetenzen verbessern wollen.
Mein Fazit
Meine Meinung: das Buch wird dem Titel “die große Fotoschule” mehr als gerecht. In keinem der unzähligen Kapitel ist etwas davon zu spüren, dass der Autor das Thema nur aus Pflicht behandelt, immer ist sein Schreibstil erfrischend und fesselnd. Die konzeptionelle Herangehensweise und die fachmännische Perspektive führen dazu, dass auch alte Hasen noch viel lernen können.
Am besten gefällt mir dass Marian Wilhelm das Thema immer ganzheitlich betrachtet: nie kommt zu kurz, dass Fotografie ein Akt kreativen Schaffens ist, an dem der Fotograf mit seiner ganzen Person – also mit seiner Kreativität, Erfahrung und seinem Gefühl bei der Sache ist – das ist die Botschaft, die uns der Autor auf Grund seiner langjährigen Erfahrung hier anschaulich vermittelt. Das ist eine Lebensaufgabe und dieses Buch kann dazu einen konstruktiven Beitrag leisten. Es ist dem Autor gelungen, die Faszination der fotografischen Arbeit mit Menschen facettenreich und kompetent zu illustrieren. Ein gutes Standardwerk für alle, die auf diese spannende Aufgabe vorbereitet sein möchten, Ihr Verständnis vertiefen oder ihre Fertigkeiten verbessern möchten.
Links
- Zur Buchvorstellung auf rheinwerk-verlag.de
Tipp: Jedes Buch hat eine individuelle Buchnummer, mit der Sie sich auf der Seite des Verlages registrieren – und das Buch personalisieren können. Dafür können Sie das E-Book kostenlos laden und z.B. unterwegs auf dem iPad lesen. - Zur Webseite des Autors: www.marian-wilhelm.de
Fotogallerie
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