Wie mich ein Mönch
zum Geschichtenerzähler gemacht hat

Reportage Fotograf Martin Frick in Frankreich

Allein, irgendwo im nirgendwo

Vor einigen Jahren habe ich meine Freunde auf ihrem Hof in Südfrankreich besucht. Sie leben am Rande des „Vercors“, einer einsamen und wilden Gegend mit alpinem Charakter. Gemeinsam zogen wir mit einem Pferd, bepackt mit Motorsägen und Sensen auf einen Pass, der für die Schafe und Ziegen freigeschnitten werden sollte. Damals habe ich erfahren, dass unweit des Passes ein Mönch als Einsiedler lebt, der von seinem Kloster entsandt wurde. Vielleicht um die Welt zu retten. Und vielleicht, um mich zu retten.

Seit über 20 Jahren hauste er in einem Bretterverschlag, gegen den eine schweizer Bushaltestelle luxuriös erscheint. Die Leute aus dem Dorf hielten Kontakt zu ihm. Er schien dort oben von der Hand im Mund zu leben, einer zutiefst ärmlichen Lebensform, aus unserer „zivilisierten“ Sicht betrachtet. Die Hintergründe der Entsendung kenne ich nicht. Ich weiss nur eins: er hatte den Ort da oben in den Bergen selbst gewählt.

Mit Lena, der Tochter meiner Freunde als „guide“, habe ich mich aufgemacht, um ihm einen Beutel Nüsse zu bringen. Wir saßen eine halbe Stunde zusammen, dann lud er uns in seinen kleinen Bet-Raum ein. Eine Heizung konnte ich nicht entdecken, es war vollkommen dunkel, bis auf eine kleine Luke, durch die ein Lichtstrahl auf den Jesus und das Kreuz fiel. Wir meditierten und beteten zusammen.

Es war eine Begegnung, die mich nachhaltig beeindruckt hat. Wir redeten über Gott und die Welt und über die moderne Gesellschaft, zu der er nur über Bücher, christliche Schriften und sporadische Besuche in Kontakt bleiben konnte. Die grösste Gefährdung sah er im PC, der eindeutig von Satan höchst persönlich kam und uns Menschen zerstören würde, so der Mönch. Irgendwie muss er davon über Magazine erfahren haben, die ihm von seinem Kloster zugeschickt wurden. Wie die Schatten an Platons Höhlenwand konnte er nicht anders, als das dort beschriebene für die Wirklichkeit zu halten. Die Chance, vor die Höhle zu treten, war ihm verwehrt.

Was mir von ihm in Erinnerung geblieben ist, war seine Präsenz. Seine Augen schienen mich direkt zu durchdringen, als gäbe es nichts, was ich vor ihm geheim halten könnte, ganz so als wollte er sagen: „lebe jetzt!“.

Wir haben uns gut unterhalten, sofern das mein Französisch zuliess, und fanden heraus, dass unsere Ansichten näher beisammen lagen als wir zunächst glaubten.

Die anderen hatten solange die Büsche am Pass geschnitten und als wir wieder zur Gruppe stießen, packten wir das Pferd und stiegen ins Tal hinab. Ganz ehrlich, ich habe dann jahrelang nicht mehr an den Mönch gedacht und ihn schließlich ganz vergessen.

Wiedersehen

Vor ein paar Jahren dann, führte mich mein Weg wieder zu dem Hof meiner Freunde, und in mir wuchs der Wunsch, noch einmal auf den Pass zu steigen. Ich wollte diesen Zeitgenossen ein zweites Mal zu besuchen, diesen Menschen, der irgendwie aus der Zeit gefallen war.

Inzwischen hatte ich Soziologie studiert und mir ist immer mehr klar geworden, wie relativ das doch ist, was wir als „Normalität“ betrachten. Wenn ich daheim erzählte, wie dieser Mensch lebte, glaubte mir das eigentlich niemand so richtig. „So was gibt es im 21. Jahrhundert in Mitteleuropa?“ „Glaube ich nicht.“ „Kann ich mir nicht vorstellen.“

Also habe ich mich wieder auf den Weg gemacht, dieses Mal zusammen mit meinem Reisekameraden. Sechs Jahre waren seit dem ersten Mal vergangen. Oben angekommen, begrüßte mich der Mönch mit meinem Vornamen. Er rechnete mir vor, wann ich das letzte Mal da gewesen sein musste, und dass ich mit Lena gekommen war, da wir drüben am Übergang Büsche geschnitten hatten. Zu sagen, dass ich überrascht war, ist mehr als untertrieben.

Als er hörte, dass wir in Montpellier waren, um das traditionelle japanisches Bogenschiessen zu lernen, schenkte er uns ein Glas Wasser ein, Wasser, das er zu Fuss von einer Quelle weiter unten mühsam rauftragen musste. Absichtlich machte er das Glas bis zum Rand voll und reichte es uns. Wir verschütteten ein paar Tropfen. Da lachte er uns aus, weil wir nicht in der Lage waren, es ruhig zu halten. „Für was sollte dann das Bogenschiessen gut sein…?“ fragte er, sichtlich darüber amüsiert, dass er uns feinmotorisch überlegen war mit seinen 80 Jahren.

Wir unterhielten uns noch lange und obwohl er nicht viel zu essen hatte, sollten wir auch vom Honig probieren. Eine erneute Probe. Ich weiss nicht, wovor ich mehr Angst hatte – mitten in der Abgelegenheit der Berge einen Zuckerschock zu erleiden, oder, dass er mir die Zunge abschneiden könnte mit dem rostigen Opinel-Messer, an dessen Klinge der Berg von Honig klebte.

Sein durchdringender Blick, seine Schlagfertigkeit und die unfassbare Präsenz ist mir auch dieses Mal aufgefallen. Ich konnte seine Lebensweise nicht wirklich nachvollziehen und ein wenig empfand ich Mitleid für seine Abkehr von der Welt da draußen. Aber sein Im-Hier-Und-Jetzt-Sein war beeindruckend, und ich empfand tiefsten Respekt und fühlte mich im Vergleich dazu sehr, sehr klein.

Zum Abschied sagte er zu mir, dass er nicht mehr am Leben sein werde, wenn ich das nächste Mal vorbei käme. Zwar habe er dies auch beim letzten Treffen gesagt, aber dieses Mal sei es wahr, betonte er.

Wir verabschiedeten uns und stiegen den Berg hinunter. Der Pfad, die Landschaft, verlangten unsere ganze Aufmerksamkeit. Wir kehrten schweigend ins Tal zurück, auf eine geheimnisvolle Art tief berührt und in der Gewissheit, etwas Einmaliges erlebt zu haben.

Nachdem wieder ein paar Jahre vergangen waren, habe ich angefangen, einen Teil meines Lebensunterhalts mit der Fotografie zu bestreiten. Immer wieder habe ich an den Mönch gedacht und der Wunsch, ihn mit der Kamera zu besuchen, um dieses aussergewöhnliche Leben zu dokumentieren, wurde immer stärker.

Im Sommer begann ich dann konkret mit der Planung und war fest entschlossen, hin zu fahren. Ein Telefonat mit meinen Freunden sollte mir eine gewisse Verbindlichkeit schaffen. Manchmal ist es eine gute Idee, andere in seinen Plan einzuweihen, um sich von der eigenen Kühnheit nicht einschüchtern zu lassen.

Als meine Freundin den Hörer abnahm, kam ich direkt auf meinen Plan zu sprechen, den Mönch ein weiters Mal zu besuchen. Da stellte sich heraus, dass diese Türe zugegangen – und der Mönch tot war.

Als sie ihm im Herbst etwas Essen bringen wollten, lag eine schwarze Mönchskutte unter dem ersten Schnee. Darin lag er, leblos, auf dem Weg ins Tal. Meine Freunde haben zunächst in seinem Kloster angerufen und danach einem Arzt und der Polizei. Seine Mission war erfüllt und er war heimgekehrt.

Mich überfiel gleichzeitig eine scheue Faszination und tiefe Traurigkeit.

Wenn ich daran denke, warum ich das Ganze hier aufschreibe, komme ich zu einem ziemlich banalen Ergebnis: Ich erzähle diese Geschichte, weil ich eine Begegnung, die so wahrscheinlich nicht wiederkommen wird, festhalten möchte. Und weil ich dir davon erzählen möchte. Ich möchte dir diese und andere Geschichten erzählen. Überraschende Geschichten, schöne Geschichten, nachdenkliche Geschichten, fröhliche Geschichten, Geschichten über das Leben und über die Menschen, und was sie bewegt. Über dich und mich.

Geschichten, die dich und mich was angehen.

Was denkst du jetzt über die Geschichte mit dem Mönch? Was hat sie mit deinem Leben zu tun? Würdest du wie er – wenn du von einer Entscheidung überzeugt bist – alles hinter dir lassen, alle Konsequenzen in Kauf nehmen und dich aufmachen auf den steilen und steinigen Pfad? Oder ziehst du es vor, im Tal zu bleiben? Warum etwas ändern, lassen wir es lieber wie es ist…?

Bitte verstehe mich nicht falsch, ich möchte nicht den moralischen Zeigefinger erheben. Ich selbst möchte aus dieser Geschichte lernen. Durch diese Begegnung habe ich etwas erkannt. Ich habe jetzt die Kraft und den Mut, aufzubrechen, wenn ich fühle, dass es das Richtige für mich ist:

etwas Neues zu wagen und nicht zu lange zu warten.

Jetzt ist die Zeit dafür. Immer wieder geht eine Türe zu und immer wieder geht eine Türe auf. In diesem Fall habe ich bereut, nicht schon früher aufgebrochen zu sein. Das schmerzt. Daran habe ich etwas geändert. Und deshalb ist diese Geschichte für mich bedeutsam.

Weil sie mir zeigt, warum ich tue was ich tue.

Im Laufe meines Lebens habe ich schon verschiedene Berufe ausgeübt.
Jetzt frage ich mich: „Wer bin ich heute?“

Ich bin ein Geschichtenerzähler.

Mein Notizblock ist die Kamera, meine Worte sind Bilder, mein Pinsel ist das Licht. Wenn du Lust hast, schau doch mal meine Geschichten an. Ich hoffe, dir gefällt was ich zu erzählen habe. Ich wünsche mir, dass es dir etwas sagt. Dass du etwas sehen kannst, was du so noch nicht gesehen hast, etwas, das eine Bedeutung für dich hat.

Wann darf ich deine Geschichte erzählen?

Autor

Martin Frick. Photographer. Writer.
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